Es geht um Eisberge und Menschen. Oder weniger bildlich gesprochen, die Fähigkeit, zu erkennen, was uns vertraut ist und uns für das andere zu interessieren.

Denken in Mustern

Stellen wir uns vor, ein sehr großes Schiff fährt auf einen sehr großen Eisberg zu. Wie wir wissen, ragen große Schiffe weit in die Tiefe und große Eisberge dehnen sich eben dort viel weiter aus, als es die Spitze vermuten lässt. Um genau zu sein: Wir sehen davon in der Regel nur etwa 20 %, glauben aber, das Wesentliche wahrzunehmen. Übertragen wir die Metapher auf zwischenmenschliche Begegnung, bedeutet das: Wir denken meist, Bescheid zu wissen über das, was wir sehen oder hören. Das erledigt unser Gehirn automatisch, indem es Sinnzusammenhänge über Erfahrungsbilder und Analogien herstellt. Einfacher gesagt: Wir interpretieren, was wir nicht wissen. Ein Beispiel: Eine Frau reicht einem Mann die Hand. Er reagiert nicht. Was denken wir?

Perspektive wechseln

Interpretieren wir ausschließlich aufgrund eigener – auch kultureller – Muster, halten wir den Mann wahrscheinlich für frauenfeindlich. Wir glauben, dass er seinem weiblichen Gegenüber keinen Respekt zollt. Gelingt es uns nun, einen „Perspektivwechsel“ vorzunehmen, halten wir zunächst einen Moment inne. Und nehmen wahr: Ein Mensch verhält sich anders, als wir es erwartet oder gehofft haben. Dafür wird es wohl einen Beweggrund geben, den wir nicht kennen (können), sondern den wir uns in unserem jeweiligen Weltbild und mit persönlichen Schlussfolgerungen zusammenreimen. Stattdessen könnten wir uns für den Menschen, dessen Verhalten uns beschäftigt, interessieren.

Wieso, weshalb, warum?

Wenn wir wirklich wissen wollen, warum ein Mensch einem anderen Menschen nicht die Hand gibt, müssen wir fragen. Möglicherweise wundern wir uns über die Antwort. Denn je nach kulturellem Background, individueller Verfasstheit oder Charakter kann es viele Gründe für einen nicht erwiderten Handschlag geben: Erziehung, Altersunterschied, Unsicherheit, Unwissenheit. Vielleicht hat der Mann auch eine starke Sehschwäche, und bemerkt die ausgestreckte Hand nicht. Oder die Geste ist ihm suspekt. Vielleicht ist er auch einfach ein Rüpel. Oder wir liegen tatsächlich mit unserer Fantasie richtig. Alles möglich. Die kürzeste Definition von interkultureller Kompetenz lautet deshalb: „Glaub nicht alles, was du denkst.“ Sondern? Fragen statt Antworten haben. Dann sind wir auch schneller im Dialog und können Missverständnisse und Konflikte eher vermeiden.